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(ES IST DUNKEL UND KALT)

Benjamin Jakob Enders​

Es ist dunkel und kalt. Diese Nacht dauert schon lange. Gestern hat es geschneit, aber der Schnee ist schnell wieder geschmolzen.

Ich setze mich in die leere Straßenbahn. Mein Platz ist auf das Fenster gerichtet, ich schaue weder in die Richtung in die die Bahn fährt, noch in die Richtung aus der die Bahn kommt. Ich sehe dabei zu wie die Häuser der Stadt von Rechts nach Links an mir vorbeiziehen. In den Fenstern vor mir spiegeln sich die Fenster hinter meinem Rücken und in den Fenstern der Läden und Restaurants spiegelt sich die Straßenbahn. Ich sehe mir die verschiedenen Ebenen eine Zeit lang an, dann fällt mir meine eigene Spiegelung im Straßenbahnfenster auf und ich sehe mir selbst in die Augen. 

Ich finde, dass ich seltsam aussehe, mein Gesicht ist irgendwie ungewöhnlich; es ist mir unangenehm von mir selbst so genau betrachtet zu werden, doch ich schaue mir weiter in die Augen. Wenn ich es nicht mehr aushalte, dann konzentriere ich mich auf die anderen Ebenen des Bildes ohne dabei den Blick abzuwenden. Ich sehe die Stadt, die Straßenbahn oder die verschiedenen Spiegelungen. Nach einer Weile nehme ich alles auf einmal wahr. 

Ich konzentriere mich nicht mehr auf das eine oder das andere. 

Ich bin eingebettet in die Spiegelungen. 

Ich versinke darin. Ich bin müde aber nicht schläfrig, erschöpft aber nicht kraftlos. 

Ich war schon oft dort 

Ich kenne den Weg gut, die Häuser habe ich schon oft gesehen, trotzdem fallen mir jetzt neue Einzelheiten auf. 

Obwohl die Durchsage meine Haltestelle ansagt, stehe ich nicht auf. 

Ich will aufstehen, ich könnte auch aufstehen, aber ich tue es nicht und ich verstehe nicht warum. Ich sehe mir selbst dabei zu, wie ich nicht aufstehe. Warum stehe ich nicht einfach auf? Meine Beine werden immer kälter und mein Herzschlag verlangsamt sich, die Luft wird klarer und das Licht wird härter. 

Die Stadt sieht ganz anders aus. Ich kann mich nicht daran erinnern jemals hier gewesen zu sein. 

Es ist sehr kalt. 

Ich friere so sehr, dass ich meine Hände kaum noch bewegen kann. Auch bei der nächsten Station steige ich nicht aus. Ich könnte und ich weiß nicht, warum ich es nicht tue. Warum stehe ich nicht einfach auf? Ich sehe mir weiter in die Augen, und versinke so tief in meinen eigenen Blick, dass ich die Frage vergesse. 

Ich stelle mir die Stadt als ein Geflecht von Zonen und Bereichen vor. Und wie ich in diesem Geflecht verloren gehe. 

Je kälter es wird, desto bunter und härter wird das Licht, das die Gegenstände abstrahlen. Bei jedem Atemzug spüre ich wie winzig kleine Kristalle in meinem Brustkorb knistern. Meine Beine und Arme werden immer starrer. Ich friere ein. Meine Körper verwandelte sich langsam zu Eis. 

Ich stehe nicht auf. 

Ich sehe der Stadt dabei zu, wie sie einfriert. Langsam wird alles von Raureif überzogen, und die Straßenbahn schiebt sich durch die Kälte hindurch. Überall ist es kalt. Überall ist Stillstand. 

Wenn ich nicht schon gefroren wäre, dann müsste ich jetzt vielleicht weinen. Die Luft wird immer zäher und meine Augenlieder lassen sich nur noch mit großer Mühe schließen oder öffnen. 

Die Stadt ist ein Geflecht aus Zonen und Bereichen. 

Stumme Klänge hauchen über unendliche, glatte Böden. Ein einsamer Blick schwebt durch menschenleere Hallen. Echos prallen von den Wänden ab. Nichts bewegt sich, außer der Blick und das Denken. Nur weit entfernt hört man vereinzelte Schritte. 

Wo ist dieser Ort? 

Ich kenne ihn. Ich muss einmal hier gewesen sein, aber ich weiß nicht wie lange das schon her ist. 

Außerhalb scheint die Sonne. Doch es gibt kein Fenster. 

Innerhalb liegt das Menschliche. 

Und Schritte auf den glatten Böden. 

Die Distanz zwischen ihnen wächst. 

Und doch: 

Es ist so wie auf einer Lichtung, Oder ein frisch gefällter Baum unter dem Schnee. 

Warum erinnere ich mich nicht an diese Wände und diesen Boden? 

Die glatte Oberfläche ist steril, sie verläuft bis an den Horizont. Mein Blick fliegt langsam aber unaufhaltsam darauf zu.
Alles ist eingefroren.
Die Stille reicht bis zum Rand der Zone.
Die Distanz zwischen den Schritten wird immer größer. 

Hinter dem Fenster ist die Stadt.
Langsam und lautlos fahre ich an ihr vorbei.
Ein feiner Regen tanzt auf dem Glas,
Wie ein Vogel auf meinen blauen Lippen. 

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