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PLOPP

Markus Henschler​

​​Die Ampeln erglühen still, wenn ich auf sie zufahre. Die Bremsen kreischen nach Pflege, aber solange es fährt - auf einem geliehenen, viel zu kleinen Jugendfahrrad bin ich wieder in der Stadt, die mal in kleiner Schrift auf meinen Personalausweis geklebt wurde und mittlerweile überklebt ist. Auf meinem Weg passiere ich Dönerbuden und erinnere mich, dass seit ein paar Jahren zu jedem ihrer Namen ein passender Jingle in meinem Kopf wohnt. Kapadokya klingt nach Telekom.

Auch das Straßennetz ist in mein Gedächtnis gebrannt. Mit dem Fahrrad schneller als jeder Bus und jedes Auto, dazu der Fahrtwind als Soundtrack. Jedes Mal, wenn ich zurückkomme, gibt es ein paar neue Läden und Häuser, jedes Mal sind ein paar mehr mir bekannte Namensschilder an den Türklingeln überklebt. Ich beginne zu vergessen, wie unterschiedlich die Klingeln der mir bekannten WGs läuten. Die Klingel als Jingle, wenn wer rein will als intimes Markenzeichen der Wohnung. Alte Erinnerungen, die im Hirn durch neue überklebt werden. Nur das Straßennetz bleibt gleich und die Regel, dass diese Stadt auf ewig jung bleibt und dafür jedes Jahr heimlich weiter Klingelschilder austauscht.
Manchmal ploppt etwas aus dem Gedächtnis auf, aber nur, wenn ich direkt an den passenden Orten vorbeifahre, sie sehe, rieche oder höre. Orte gibt es hier Tausende. Zum Abbiegen nehme ich kurz die Hände an den Lenker. Es quietscht viel, als ich ein bisschen bremse. 15 km/h ist ziemlich schnell bei so einem dichten, lauten Teppich aus Erinnerungen. Keyf-i Mangal klingt wie Carglass tauscht aus.
 
Mit Sechzehn wurde ich mal gefragt, wie ich mir die Zeit nach der Schule vorstelle. Meinen Vergleich mit einem Sektkorken musste ich erklären: Nachdem die Flasche lange geschlossen war und alle Tropfen gerade beginnen, sich gut zu verstehen, macht es Plopp. Von da an verteilt sich dann alles. Es rauscht und prickelt, einige Tropfen spritzen direkt weit weg, vielleicht ins Ausland, der Großteil verteilt sich auf verschiedene Gläser der Großstädte und ein kleiner Rest bleibt immer in der Flasche. Geblieben, um still zu verdunsten.
Alle wissen, dass und wie so etwas passiert, und erschrecken sich trotzdem bei jedem neuen Korken, als wäre es der erste gewesen. An manchen Ampeln muss ich nicht nach der Farbe schauen, sondern kann während dem Warten meine Augen schließen. Nach tok tok tok kommt piep piep piep, ich öffne meine Augen und schalte langsam hoch. Mein Reifen verliert Druck und ich denke drüber nach, ob ich mich in jeder neuen Stadt anders verhalte. Der Fahrtwind als Fade Away Medley. Diyar Sofrasi klingt nach Summer Cem, neue Bugatti.
 
In dieser Stadt gibt es eine Straße ein Reihenhaus eine Person, die sich oft aus dem Fenster lehnt und dann einfach nur guckt. Ich bin hunderte Male mit dem Fahrrad an diesem Haus vorbeigefahren. Jedes Mal, wenn die Person aus dem Fenster schaute, habe ich im Vorbeifahren kurz den Finger in den Mund gesteckt, einen Unterdruck erzeugt und den Finger schnell nach vorne aus dem Griff meiner Lippen gelöst. Genau auf der Luftlinie des offenen Fensters: Ich ploppe, sie nickt. Jahrelang.
Ich schiebe das mittlerweile platte Rad, heute bewege ich mich ungewohnt nah und ungewohnt langsam an dem Ploppfenster vorbei.
Die Person und ihre Falten im Gesicht habe ich noch nie so detailliert gesehen. Neben ihr noch wer. Als mich beide anschauen, kann ich nicht anders als zu ploppen. Die beiden am Fenster stecken Finger in Münder und machen denselben Sound wie ich. Das wird mein Gehirn nicht so schnell überkleben. Ich sage zufrieden “schön”, muss lächeln, bringe das Rad zurück und gehe zum Bahnhof.

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